SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Wayfarer 2 - Zwischen zwei Sternen

KLAPPENTEXT: Für die künstliche Intelligenz Lovelace bricht nach einem totalen Sytemausfall eine Welt zusammen: Plötzlich ist sie nicht mehr das allwissende Computerhirn des Raumschiffs Wayfarer, sondern steckt in einem synthetischen Menschenkörper - mit all seinen Beschränkungen. Es fällt ihr schwer, sich in ihrem neuen Körper zurechtzufinden und in eine Geselslchaft einzufügen, in der künstliche Menschen wie sie verfolgt werden. Zum Glück wird sie von der chaotischen Technikerin Pepper begleitet, die ganz genau weiß, wie es ist, das Universum von einem Tag auf den anderen mit völlig neuen Augen zu sehen.


BEZUG ZUM ERSTEN BUCH

Das Buch ist der zweite Teil des Wayfarer-Zyklus und folgt auf >DER LANGE WEG ZU EINEM KLEINEN ZORNIGEN PLANETEN<. Es ist keine direkte Fortsetzung, eher ein Spin-Off im gleichen Universum. Pepper und Blue, welche die künstliche Intelligenz (KI) im Body-Kit bei sich aufnehmen, sind als Nebencharaktere aus dem ersten Teil bereits bekannt. Die KI selbst wurde am Ende des ersten Bandes komplett rebootet, ist hier im zweiten Teil völlig neu und beginnt bei null. Ansonsten gibt es keine weitere Anspielungen / Zusammenhänge.

Da es jedoch im gleichen Universum spielt, werden Fans begeistert schwelgen können: sie begegnen erneut den Quelin, Harmagianern, Äluonern, Aandrisk, lesen über Algenantrieb und Tunneln, auch die Sprache (Flüche, Floskeln, geschlechtsneutrale Pronomen, bestimmte Lebensmittel usw) ist natürlich gleich.

Trotzdem ist ZWISCHEN ZWEI STERNEN komplett unabhängig vom ersten Teil zu lesen, da alles Notwendige erklärt wird. Das Schöne dabei: die Erklärungen sind so gehalten, dass Leser des ersten Teils keine unnötigen Wiederholungen haben sondern zusätzlich neue Informationen erhalten, Neuleser sich aber perfekt in das Universum einfinden können.


AUFBAU

Wo ich bereits im ersten Teil geschwärmt habe, kann ich hier direkt fortsetzen: Hammer! Dem Weg der KI zu folgen  und mehr über das Universum zu lernen ist das Ziel des Buches. Obwohl es also keine "klassische" Handlung gibt und sich die Einzelheiten erst während des Buches ergeben, ist der Aufbau hervorragend:

die Kapiteleinteilung hat die perfekte Länge, um immer wieder einen kleinen Happen zwischendurch zu lesen. Abwechselnd begleitet der Leser mal die künstliche Intelligenz und mal das junge Mädchen Jane 23, und die Cliffhanger lassen den Leser stets "nur noch schnell das nächste Kapitel" lesen, um rasch voranzukommen und mehr zu erfahren.

Es ist keine klassische Handlung mit Action, Krachwumm und Verstrickungen. Das Buch besteht vielmehr aus Dialogen, Gedanken, Erklärungen und einzelnen Episoden, in denen verschiedene Charaktere gemeinsam etwas erleben oder sich über bestimmte Themen austauschen.


CHARAKTERE

Die Charaktere sind hervorragend umgesetzt. Protagonisten sind Pepper, die KI sowie das Mädchen Jane, wichtige Nebenfiguren sind Blue (Peppers Partner) und Tak (befreundet mit der KI). 

Die Protagonisten haben in ihrem Leben sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Doch was sie verbindet ist die Suche nach Name, Identität, Persönlichkeit. Die Frage nach dem Menschsein und der Bewusstheit. Dem möchte ich hier aber einen eigenen Absatz widmen. Denn einen Charakter einzeln zu beschreiben würde zu weit führen, zu komplex sind die Zusammenhänge, Veränderungen und Entwicklungen (so werden zB auch Name oder Geschlecht gewechselt, und das würde in der Kürze einer Rezension einfach ein unverständlicher Brei).

Daher in der Kürze nur soviel: Blue und Pepper sind ein wundervolles Paar: er der Ruhige, Sanfte, Besonnene, Pepper in ihrer Impulsivität und Lebendigkeit. Tak ist intelligent und sehr rational, feinfühlig und vor allem bereit sich neuen Denkweisen zu stellen. Die KI lernt in rasendem Tempo und benimmt sich dabei (verständlicherweise) wie ein rebellierender Teenager, der immer wieder Grenzen austestet. Sie alle sind ein großartiges Team: jeder für sich ist spannend zu lesen, doch in der Gruppe wird es zu einer Familie. Wieder denke ich an die Enterprise, Firefly und ähnliche Raumschiffe, auf denen der Zuschauer am liebsten sofort zum Teil der Crew werden möchte.

Als Leser kann man sich sehr gut in alle hineinversetzen, fühlt und leidet mit ihnen, spürt die Angst regelrecht körperlich, wenn Gefahr droht.


GENRE

Science Fiction in Form von jeder Menge Technik (mehr als im ersten Buch), ein bisschen Weltraum und fremde Planeten (weniger als im ersten). Und vor allem ebenso wie der erste Teil eine Social-Fiction. Das Buch als Transportmittel, um einen Blick auf unsere gegenwärtige Situation zu werfen, sie zu analysieren und neue Gegenvorschläge zu bringen. So haben die Äuoloner zB ein sehr interessantes Konzept der Kindererziehung. Die Aandrisk mit ihrem Paarungsverhalten sind ebenfalls ein anregendes Diskussionsthema. Die Frage nach der Identität einer KI ist ja inzwischen auch in unserer Gegenwart präsent, hier wird es durch die Möglichkeiten der Science Fiction noch intensiviert und weitergeführt. Es sind sehr viele philosophische Anteile enthalten, die interessierte Leser begeistern.


KERNTHEMEN / QUEERE THEMEN

Ich werfe einfach einmal ein paar Begriffe in den Raum: Bewusstsein, Menschsein, Identität, Rollenerwartungen, Selbstfindung, Sinnfindung, Lebensaufgabe. Lebensführung, Diversität, Rassissmus, Speziezismus, Gender, Paarkonstellationen, Beziehungskonstrukte, Dimorphismus, Sklaverei, Eugenik, Erziehung.

Anhand vieler Beispiele wird gezeigt, wie sich Menschen entwickeln, worin sie sich von Maschinen unterscheiden und was notwendig ist, um sich in vollem Umfang zu entwickeln.

Jane23 bekommt in ihrer Kindheit alle primären Bedürfnisse optimal erfüllt: ausreichend Schlaf, Bewegung, Nährstoffe, Körperkontakt - doch ihr Geist erhält keine zusätzlichen Anreize, die Nährstoffe haben keinen Geschmack, es fehlt die Zuneigung einer erwachsenen Bezugsperson. Ihre Erziehung durch künstliche Intelligenzen sowie ihre Isoliertheit erinnert sehr an >Harlows Experiment<. Auch die Themen Sklavenhaltung, Eugenik, Klonen von Menschen, Individualität werden hier behandelt. Jane ist Person, Mädchen, Kind, Mensch - so viele Rollen, doch wer ist sie wirklich? Ohne den Leser mit philosophischen, pädagogischen, philosophischen oder soziologischen Fachbegriffen zu überfordern, steigt die Autorin tief in die Materie, liest sich dabei aber so leichtfüßig wie ein Unterhaltungsroman.

Jane und die KI müssen beide erst zu einer Person werden, müssen lernen zu sich selbst zu finden. Dabei geht es immer wieder um die Frage des Bewusstseins. Hier musste ich oft an die Folge WEM GEHÖRT DATA aus STAR TREK - THE NEXT GENERATION denken.

Die KI ist im Gegensatz zur menschlichen Jane ein Computerprogramm mit klar definierter Aufgabe. Sie steckte in einem riesigen Schiff, und nun ist sie gefangen in einem winzigen Körper. Fühlte (Fühlen ist eine Form der Verarbeitung und Bewertung von Reizen - eine KI verarbeitet und bewertet Reize, ist Fühlen also wirklich nur menschlich?) sie sich im ersten Band vollständig und konnte ihrer Aufgabe nachgehen, so legt sie hier immer wieder klar Wert darauf, dass sie nicht ihr Körper, nicht das Body-Kit ist. Auch sprachlich äußert sich dies: "sie achtete darauf, dass das Kit Pepper nicht im Weg stand".

Spannend ist das Verhalten nach dem Outing: es wurde der Körper beurteilt, der Gegenüber ging von einer Person aus, führte angeregte Gespräche, fühlte sich hingezogen. Als herauskommt, dass es sich um eine KI handelt, ändert sich plötzlich das Verhalten, der Gegenüber fühlt sich getäuscht, wertet das bisher gemeinsam Erlebte ab. Ich verwende hier bewusst das Wort Outing, weil dieser Aspekt des Buches (Körper/Geist) für mich bei den queeren Themen einzuordnen ist und die KI ihr Anderssein ähnlich verstecken muss wie homosexuelle Menschen damals ihre strafbare Neigung. Auch kann man hier quasi von einer Art Dysphorie der Künstlichen Intelligenz sprechen.

Auch wird gezeigt, wie wichtig Namen und Selbstdefinitionen sind, um eine Identität zu schaffen. Es gibt Charaktere, die im Buch ihren Namen wechseln (was es für die Rezension hier nicht unbedingt einfach macht, wenn ich nicht für Verwirrung sorgen will). Auch gibt es eine Figur, welche biologisch bedingt mehrfach während der Handlung das Geschlecht wechselt, sodass gelegentlich von er, sie oder ser / sire (geschlechtsneutral) die Rede ist.


PERSÖNLICHE MEINUNG

Ich war begeistert und konnte von Beginn an sofort mitfiebern. Es gibt nur wenige Bücher, die mich so intensiv berühren wie dieses. Ich habe gelächelt, gestrahlt, gebangt, und ein paarmal auch vor Rührung oder Ärger geweint. Zig Notizen, Markierungen, so unzählig viele Lieblingsstellen.


FAZIT

ZWISCHEN  ZWEI STERNEN ist eine durch und durch optimistische, positive Erzählung. Hautfarbe, Rasse, Geschlecht, Alter, Herkunft, es ist egal. Es gibt immer eine Möglichkeit, aufeinander zuzugehen, Rücksicht aufeinander zu nehmen, gemeinsam etwas Großes zu erschaffen.

SaschaSalamander 01.04.2019, 12.18

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